Gespräch mit Walter Müller-Seidel - Rückfall in die Barbarei. Hochschulgermanisten warnten auf ihrem Stuttgarter Kongreß vor einseitiger Liebe zur Moderne
Ortega y Gassets Wort vom Rückfall des modernen Menschen in die Barbarei wird zitiert und an das Geschichtsbewußtsein appelliert: Deutschlands Creme der Hochschulgermanisten sieht sich von der immer drückender werdenden Last der Lehre und dem unverkennbaren und unstillbaren Durst ihrer Knappen nach der Moderne existentiell bedroht. Gegen Verwässerung und Streß der Lehre und jugendliche Klassiker-Feindschaft wurde beim Kongreß in Stuttgart das rechte Mittel gesucht. Die Professoren glauben es im verstärkten Forschungseifer entdeckt zu haben. Wie dieHochschulgermanisten ihre Z ukunft einschätzen, fragte Ernst-Peter Grimm den Vorsitzenden der Hochschulgermanisten, Professor Dr. Walter Müller-Seidel.
Wie ein roter Faden hat das Postulat nach verstärkter germanistischer Forschung diese Stuttgarter Kongreß-woche durchzogen. Kann man am Ende dieser Woche von neuen Ansätzen sprechen?
Wir haben die Forschung deshalb so betont, weil die Gefahr besteht, daß sie bei den Überlastungen der Hochschullehrer durch die Lehre vernachlässigt wird. Aber wir haben gerade auch für die Lehrer mit der Gründung von Arbeitskreisen für Hochschuldidaktik sehr viel getan und haben jetzt zum erstenmal auch die Vertreter der Pädagogischen Hochschulen in die Fachgruppe der Hochschul-germanisten einbezogen. So ist also durchaus der Akzent der Didaktik, der Lehre, verstärkt worden. Es ist nicht so, daß wir uns auf die Forschung einseitig zu rückziehen wollen.
Bedeutet dieses neuerliche Bekenntnis zur Didaktik in der Germanistik, daß dieser Zweig in· der Ver-gangenheit vernachlässigt wurde, daß man an den Hochschulen lange Zeit den hohen Prozentsatz der Germani-stik-Studenten, die später als Lehrer in die Schulen gehen werden, übersehen hat?
Ich habe keinen Grund, das zu verschweigen. Das hängt mit der Universitätsstruktur zusammen. An den Schulen wurde einseitig Lehre betrieben und an den Universitäten war sie etwas Zweit- oder Drittrangiges.
Auf welchen Gebieten soll denn nun diese neue Ära der germanistischen Forschung einsetzen? Wird sich die aufstrebende Linguistik in den Vordergrund schieben und dabei die bislang dominierende Lite- raturwissenschaft überflügeln?
Die Linguistik hat ihren ganz festen Ort erhalten. Ich würde sagen erfreulicherweise innerhalb kürzester Zeit. Im Grunde hatte sie sich erst 1966 beim Münchner Kongreß als neue germanistische Wissenschaft vorgestellt. Inzwischen ist diese Disziplin gut entwickelt worden. Sie hat jetzt ihre eigene Forschungsstätte in Mannheim, das Institut für Deutsche Sprache. Sie ist so gut im Rennen, daß wir nicht befürchten müssen, sie sei unterprivilegiert. Die Literaturwissenschaft hat es da im heutigen Leistungskampf schwerer, sich zu behaupten und sich in ihrem Selbstverständnis gegen- über der Öffentlichkeit zu verdeutlichen. Zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft besteht aber keine direkte Rivalität. Im Gegenteil, wir legen Wert auf die Verbindung und den Gedankenaus-tausch zwischen diesen beiden Bereichen der Germanistik.
Sie hatten davon gesprochen, daß die Literaturwissenschaft in Gefahr ist, ins Hintertreffen zu geraten. Ist das nicht wenigstens zum Teil auf das allzu lange Verharren dieser Disziplin in der Klassik und die Abneigung gegen d ie aktuellen Strömung en in der Literatur zurückzuführen?
In diese Kerbe möchte ich nicht einschlagen. Zur Zeit ist die Sorge sehr viel größer, daß wir überhaupt noch jemanden, der Literatur studiert, auch für ältere Literatur gewinnen können. Uns ist natürlich die Verpflichtung auferlegt, begreiflich zu machen, weshalb wir uns gerade mit älterer Literatur beschäftigen. Absicht dieses Kongresses war es zu zeigen, daß eine einseitige Verlagerung auf die Gegenwartsliteratur auf einem Mißverständnis beruht, weil die Gegenwartsliteratur ohne Historizi-tät nicht zu verstehen ist. Sie ist ihrerseits Geschichte.
Welche Gefahr sehen Sie in dieser von Ihnen angesprochenen einseitigen Fixierung auf die Moderne?
Ich würde sagen, daß der Verlust historischen Denkens und historischen Bewußtseins als der Verlust der Erinnerungsgabe des Menschen uns auf eine barbarische Stufe bringen müßte.
(Stuttgarter Nachrichten vom 15.04.1972)