Jörg Schönert: Bericht über die Gedenkveranstaltung zu Walter Müller-Seidels 100. Geburtstag. München, 27./28.06.2018
19.07.2018
Aus: Geschichte der Germanistik 53/54 (2018), S. 185-187
(erneute Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlags)
KOLLOQUIEN
Jörg Schönert
Die gegenwärtige Situation der Germanistik und ihre Vorgeschichte seit 1945
Gedenkveranstaltung zu Walter Müller-Seidels 100. Geburtstag. München, 27./28.06.2018[1]
Walter Müller-Seidel starb am 27.11.2010; im Folgejahr gründeten Schülerinnen und Schüler des Münchener Germanisten einen Freundeskreis, der seither eine Reihe von fachgeschichtlichen Tagungen veranstaltete, dazu mit Referaten beitrug und Gäste für Vorträge einlud. Auf der Website http://www.walter-mueller-seidel.de sind die Tagungen von 2011, 2013, 2014 und 2016 dokumentiert; die öffentlich angekündigte Veranstaltung des Gedenkjahres 2018 fand in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften statt, zu deren Mitgliedern Walter Müller-Seidel zählte. Die Organisation vor Ort hatten Friedrich Vollhardt (LMU München) und Thomas Anz übernommen; an den vorausgegangenen Planungen zur Tagung hatten zudem Karl Richter und Jörg Schönert mitgewirkt. Erörtert werden sollten insbesondere interdisziplinär orientierte Forschungsgebiete von Walter Müller-Seidel, die bestimmt waren von der Bedeutung literarischer Thematisierungen des Erfahrungs- und Problembereichs der Wissenschaften; sie kennzeichneten seine interdisziplinäre Praxis von Literaturgeschichte durch den Zusammenhang mit Ideen- bzw. Wissensgeschichte. Damit sollten auch aktuelle Konstellationen einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Germanistik im Hinblick auf ihre Reformgeschichte seit den 1960er Jahren angesprochen werden, wobei der Bedeutung von ‚1968’ besonderes Gewicht – auch hinsichtlich von Müller-Seidels Rolle in der Münchener Germanistik – zu geben war.
Im ersten Programmteil kommentierten Hans-Harald Müller (zuletzt Univ. Hamburg) und Myriam Richter (Hamburgische Wissenschaftlichen Stiftung) den fachgeschichtlichen Kontext zu Ausschnitten aus einem Interview, das Anna Lux 2003 mit Walter Müller-Seidel über seine Leipziger Studienzeit geführt hatte;[2] daran anschließend rekonstruierten sie unter der Perspektive „Wissenschaft als Lebensentwurf“ aus Archivbeständen „Walter Müller-Seidels Anfänge“ an den Universitäten Heidelberg und Köln: von der Fortsetzung und dem Abschluss des Studiums mit Erstem Staatsexamen und Promotion in Heidelberg bis zur Habilitation in Köln. In der engen Bindung des Jungwissenschaftlers an seinen ‚Doktorvater’ Paul Böckmann wurden auch die spezifischen Karriere-Probleme eines Wissenschaftlichen Assistenten in den späten 1940er und den 1950er Jahren deutlich: von den Belastungen mit ‚Zuarbeit’ für den Ordinarius bis hin zu den Heidelberger Querelen um die Habilitation des Wissenschaftlichen Assistenten, die erst nach Böckmanns Wechsel an die Universität Köln am neuen Arbeitsort vollzogen werden konnte.
Im Rückblick auf die 1960er und 1970er Jahre erkundete Karen Weduwen (Morphomata-Kolleg der Univ. Köln) das „Reformbewusstsein“ Walter Müller-Seidels in der „germanistischen Erneuerung“ dieser beiden Jahrzehnte, gestützt auf sein Gespräch mit Petra Boden aus dem Jahr 2003.[3] Sie arbeitete heraus, dass Müller-Seidel für die akademische Ausbildung die traditionale Orientierung an den Vorgehensweisen erfahrener Forscherpersönlichkeiten als wichtig ansah (im Sinne einer individuell bestimmten ‚Einheit von Forschung und Lehre’) und er deshalb eine allgemein angelegte ‚Einführung in die Literaturwissenschaft‘ als (szientifisch begründetes) Lehrprogramm für Studienanfänger kritisch betrachtete. Den Aufforderungen zu vermehrter kooperativer Forschungspraxis auch in den Geisteswissenschaften begegnete er mit Skepsis, weil durch die dabei dominierende Drittmittelfinanzierung Forscherpersönlichkeiten über Freistellungen der Lehrpraxis entzogen wurden.
Im Folgebeitrag bezog sich Gert Sautermeister (zuletzt Univ. Bremen) mit seinem perspektivenreichen Vortrag zu „’Friedrich Schiller und die Politik’ (2009) – Zum historisch-gesellschaftlichen Ort und zur literarisch-politischen Aktualität des letzten Werkes von Walter Müller-Seidel“ u.a. auf die Probleme eines – von Müller-Seidel geforderten – ethischen Engagements literaturwissenschaftlicher Forschungspraxis zugunsten der ideellen Verpflichtung auf Erkenntnis von ‚Humanität’.[4]
Notwendige Fragen zu den ‚1968’ erhobenen Erwartungen an den prinzipiellen Zusammenhang von ‚Literatur und Politik’ entwickelte in einem Abendvortrag Matthias Politycki (Hamburg/München) im Hinblick auf seinen Werdegang als Schriftsteller und Essayist. 1955 geboren, verstand er sich in ersten Berufsjahren (mit Promotion 1987 bei Walter Müller-Seidel am Münchener Institut für Deutsche Philologie und einer daran anschließenden dreisemestrigen Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Wolfgang Frühwald) in kritischer Distanz zu den ‚1968ern’ als ‚1978er’ und beharrte auch als ‚freier Schriftsteller’ zunächst auf einer entschiedenen Trennung von ‚Literatur und Politik’. Erst in der Medienpraxis der ‚neuen Bundesrepublik’ der 1990er Jahre wurde ihm deutlich, wie stark literarisches und publizistisches Engagement in politisches Kalkül eingebunden wird.[5]
Zum Abschluss des ersten Tages der Tagung war vorgesehen „Germanistik um 1968 (nicht nur) in München: Dokumente, Erinnerungen und Diskussion“. Nach einleitenden Vorgaben von Jörg Schönert (zuletzt Univ. Hamburg), Ulrich Dittmann (zuletzt Univ. München)[6] und Hans-Harald Müller erwies sich in dem anschließenden Gespräch u.a. Müllers Feststellung als wichtig, dass für die Entwicklungen von ‚1968’ die lokalen Unterschiede in den hochschulpolitischen Konstellationen zu beachten seien. So ermöglichte beispielsweise das wegweisend-progressive Hamburgische Hochschulgesetz vom 25.04.1969 mehr sachorientierte Reformdiskussionen an der dortigen Universität als etwa in München angesichts der konfrontativen Bedingungen der Entwürfe zum Hochschulgesetz des Bayerischen Kultusministeriums unter dem CSU-Politiker Ludwig Huber.
Am 28. Juni bezogen sich die Vorträge zunächst auf Buchveröffentlichungen aus dem Nachlass von Walter Müller-Seidel. Gunter Reiß (zuletzt Univ. Münster) referierte zu dem von ihm herausgegebenen Band „Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik“ (Berlin 2017).[7] Thomas Anz (zuletzt Univ. Marburg) erläuterte sein Projekt zur Edition von „Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945). Sonderausgabe von literaturkritik.de, Verlag LiteraturWissenschaft.de. Marburg 2018“.[8] Walter Müller-Seidel hatte zu einem solchen thematisch orientierten Sammelband seiner Forschungsarbeiten einen ersten Entwurf 2000 dem C.H. Beck Verlag eingereicht und bis 2004 zwei weitere Zusammenstellungen entworfen, die für die Edition seiner zahlreichen veröffentlichten und wenigen unveröffentlichten Texte zu berücksichtigen sind.[9]
Einem weiteren Editionsvorhaben aus dem Nachlass von Walter Müller-Seidel galt das nachfolgende Referat von Anna Axtner-Borsutzky (LMU München): „Autobiographie als Wissenschaftsgeschichte.“ Für ihre Dissertation hatte Frau Axtner-Borsutzky eingehend den Nachlass von Müller-Seidel im DLA Marbach gesichtet im Hinblick auf erweiternde Materialien zu seinen ersten autobiographischen Veröffentlichungen;[10] ihr Ziel ist es, eine umfassende kommentierte Edition herzustellen. Als diskussionsbedürftig erwiesen sich insbesondere Schlüsselbegriffe in den Selbstkommentaren Müller-Seidels: ‚Gegengewichte’ für die konzeptuelle Organisation seines Autobiographie/Wissenschaftsgeschichte-Projekts und ‚Humanität’ als ethische Verpflichtung für wissenschaftliche Praxis.
Das abschließende Podiumsgespräch zu „Die gegenwärtige Situation der Germanistik im Feld der Wissensgeschichte und kulturwissenschaftlicher Interdisziplinarität“ wurde von Thomas Anz moderiert und gab Gabriele Brandstetter (FU Berlin), Ulrike Steierwald (Leuphana Lüneburg), Christine Haug (LMU München) sowie Friedrich Vollhardt (LMU München) Anlass, Möglichkeiten für zurückliegende und zukünftige Konstellationen in der Entwicklung der Philologien zu bedenken. Gabriele Brandstetter berichtete, dass die tanzwissenschaftlichen Erweiterungen ihres Status als Literaturwissenschaftlerin vom ‚Doktorvater’ Müller-Seidel (als Vertreter einer traditionsorientierten Philologie) ohne entschiedene Bedenken akzeptiert wurden. Ebenso konstatierte Christine Haug, dass am Münchener Institut für Deutsche Philologie der praxisorientierte Studiengang der ‚Buchwissenschaft’ weithin Unterstützung erfuhr; Meinungsverschiedenheiten zeigten sich im Disput zwischen Friedrich Vollhardt und Ulrike Steierwald zur Notwendigkeit einer Abkehr von bedingungslosen Erweiterungen der philologischen Praxis der Germanistik in Richtung einer ‚omnipräsenten Kulturwissenschaft’.
(Prof. Dr. Jörg Schönert, Institut für Germanistik der Universität Hamburg, Überseering 35, 22297 Hamburg; E-Mail: j.schoenert@uni-hamburg.de)
[1] Eine Veranstaltung der LMU München in Kooperation mit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; zum Programm siehe http://www.walter-mueller-seidel.de/Mueller-Seidel-100.
[2] Siehe auch Anna Lux: Räume des Möglichen. Germanistik und Politik in Leipzig, Berlin und Jena (1918-1961), Stuttgart 2014.
[3] Gespräch mit Petra Boden, in: Petra Boden: Reformarbeit als Problemlösung. Sozialgeschichtliche und rezeptionstheoretische Forschungsansätze in der deutschen Literaturwissenschaft der 60er und 70er Jahre – eine Vorbemerkung und drei Interviews, in: IASL 28, 2003, H.1, S. 111-170, hier S. 117-137.
[5] Siehe die Publikation des Vortrags in https://literaturkritik.de/literatur-politik-nach-1968-gegenwart-vortrag-27-juni-2018-bayerischen-akademie-wissenschaften,24708.html.
[6] Siehe dazu (mit zahlreichen erweiternden Materialien) https://literaturkritik.de/public/inhalt.php?ausgabe=201807#toc_nr2055: Schwerpunkt II mit den Rubriken ‚Germanistik in den Jahren um 1968’ und ‚Zum 100. Geburtstag von Walter Müller-Seidel’.
[7] Vgl. auch https://literaturkritik.de/mueller-seidel-rechtsdenken-im-literarischen-text,24626.html.
[8] Siehe dazu https://literaturkritik.de/literatur-medizin-humanitaet-walter-mueller-seidel-ueber-aerzte-dichter-kranke-weimarer-klassik-bis-zur-literarischen-moderne,24653.html.
[9] Dazu die „Editorischen Hinweise“ in der Sonderausgabe von literaturkritik.de, Juli 2018: https://literaturkritik.de/public/inhalt2.php?ausgabe=52.
[10] Vgl. insbesondere Walter Müller-Seidel: Gegengewichte. Erinnerte Zeitgeschichte, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 33/34, 2008, S. 81-100.