Walter Hettche: Der selbstbestimmte Sonnenuntergang. Anekdotische Erinnerungen an Walter Müller-Seidel und einige seiner Briefe
Walter Müller-Seidel hat den Sprachschatz unserer Studentengeneration der späten siebziger und frühen achtziger Jahre bereichert wie sonst nur noch Loriot. Sein kurzes „So?“ konnte – ganz ähnlich wie Loriots legendäres „Ach was!“ – in entwaffnend knapper Beiläufigkeit jede noch so pompöse Mitteilung auf ihre tatsächliche Marginalität einschnurren lassen; eine für den aufgeregten und möglicherweise allzu redseligen Studenten zwar hin und wieder enttäuschende, aber durchaus heilsame Erfahrung, vergleichbar dem unvermittelt ausgesprochenen „Wiedersehn!“, mit dem die Sprechstunde ebenso plötzlich beendet werden konnte wie ein Telefonat (wenn es nicht einfach durch Auflegen des Hörers ein abruptes Ende fand).
Die mehrtägige Exkursion nach Weimar und Umgebung, die wir im heißen Sommer 1983 mit dem Oberseminar unternahmen, war eine reiche Quelle Müller-Seidelscher Aphorismen und Sottisen. Wir kauften eifrig, wenn nicht enthemmt in den örtlichen Buchhandlungen ein, zum Beispiel die gerade erschienene Werkauswahl von Johannes Daniel Falk, die den schönen Titel Die Prinzessin mit dem Schweinerüssel trägt und seither im Bücherschrank zahlreicher Müller-Seidel-Schülerinnen und ‑Schüler steht, vermutlich in den meisten Fällen ebenso ungelesen wie bei mir. Bei manchen von uns ging der Bücherkaufrausch so weit, daß das Geld anschließend nicht einmal mehr für eine Bratwurst reichte, was Müller-Seidel zu dem Kommentar veranlaßte: „Solange die Studenten ihr Geld lieber für Bücher als für Nahrungsmittel ausgeben, ist mir um die Zukunft der Germanistik nicht bange.“ – 1983 war ein Wieland-Jahr (sein 250. Geburtstag), und so besuchten wir auch das Wielandgut im nahen Oßmannstedt. Beim Spaziergang im dortigen Park konnte sich Müller-Seidel die höchstwahrscheinlich zutreffende Bemerkung nicht verkneifen: „Sengle ist nie hier gewesen.“
Bald danach, von 1984 bis 1987, war ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Müller-Seidels DFG-Projekt des Verzeichnisses sämtlicher Briefe Fontanes beschäftigt. Es überkommt mich heute noch ein Zittern, wenn ich an die Arbeitsbesprechungen im Dienstzimmer des Chefs denke. Dazu reisten die beiden Nestorinnen der Fontane-Forschung an, Charlotte Jolles aus London und Jutta Neuendorff-Fürstenau aus Berlin, letztere, obwohl schon hochbetagt, im Nachtzug, mit dem sie nach der Besprechung auch wieder heimfuhr, um die Hotelkosten zu sparen. Während der Umgang mit Frau Neuendorff-Fürstenau für alle Beteiligten unproblematisch war (Kristian Wachinger – der gerade neu eingestellte Lektor des Hanser-Verlags – und ich sahen in ihr so etwas wie eine nette Oma), gestalteten sich die Beziehungen zu Charlotte Jolles einigermaßen turbulent. Es gab bisweilen lautstarke Dispute, bei denen es meist um Quisquilien ging, um Kommata und Gedankenstriche, die Form, in der polnische Bibliotheken anzugeben seien und dergleichen mehr, manchmal auch um grundstürzende Probleme: wie soll man einen namenlosen Briefempfänger verzeichnen, von dem man nur weiß, welches Geschlecht er hat? Wir wollten einfach schreiben: „An einen Herrn“ oder „An eine Dame“, aber das gefiel Müller-Seidel aus mir nicht ganz erklärlichen Gründen überhaupt nicht. Er wünschte eine andere Formulierung, und ich habe noch genau den Ton im Ohr, mit dem er uns seinen Vorschlag mitteilte, ganz so, als sei ihm eine Wendung von unüberbietbarer Eleganz gelungen: „Ich würde setzen: ,Hinsichtlich des Empfängers handelt es sich um eine weibliche Person.‘“ Es hat ein bißchen gedauert, bis wir ihm diesen Satz ausreden konnten; zum Glück war er schließlich damit einverstanden, daß wir einfach Fontanes Anredeformel zitierten, zum Beispiel „Hochgeehrter Herr und Freund.“ Nach besonders stürmischen Arbeitsbesprechungen blieb ich oft noch ein Weilchen mit Müller-Seidel allein, und gelegentlich spendierte er sogar ein Bier aus dem Dienstkühlschrank, leider eines der von ihm bevorzugten, von mir aber verabscheuten und nur aus Ehrfurcht vor dem großen Gelehrten hinabgewürgten Marke Hacker-Pschorr.
Nach seiner Emeritierung bat Müller-Seidel für allfällige Besprechungen, manchmal auch ,einfach so‘ zum Gespräch in ein Café, ins geliebte Kreutzkamm (das er echt sächsisch „Kreutzkamp“ nannte), später ins Arzmiller oder ins Café Monopteros, weil da nach seiner Auffassung „so eine studentische Atmosphäre“ herrschte, für die er ein besonderes Sensorium haben mußte; ich habe sie jedenfalls nie so recht wahrgenommen. Ein solches Treffen auf der Terrasse des Café Monopteros an einem brütendheißen Sommertag ist mir aus zweierlei Gründen in unauslöschlicher Erinnerung. Nie werde ich den schwer irritierten Gesichtsausdruck der Kellnerin vergessen, als Müller-Seidel bei 35 Grad im Schatten einen Tee mit Rum bestellte, und nie haben wir so angeregt gestritten wie an diesem Nachmittag über den Namen eines nicht ganz unberühmten Münchner Verlegers. Er sei demnächst zu einem Empfang bei dem Verleger Bauer eingeladen, erzählte er. „Bei welchem Bauer, Herr Müller-Seidel?“ – „Na, den müssen Sie doch kennen, den Bauer, der diese großen Bibliographien und Nachschlagewerke herausbringt!“ – „Ach, Sie meinen Klaus G. Saur?“ – „Nein, ich sage Ihnen doch, Bauer!“ – „Es tut mir leid, Herr Müller-Seidel, aber der heißt Saur.“ – „Wie können Sie das behaupten, Bauer heißt er, Bauer! Aber warum streiten wir, ich hab ja die Einladung dabei, da kann ich es Ihnen beweisen, hier ist sie, da, da steht’s – – ach, tatsächlich, Klaus G. Saur ... Aber Sie haben Dauer gesagt!“ – Mit Verlagen und Verlegern hatte Müller-Seidel auch noch andere Mißgeschicke. Freudig erregt setzte er sich eines Tages in den Zug nach Frankfurt, um zu einer Veranstaltung beim Deutschen Klassiker Verlag zu fahren. Kurz hinter Würzburg schaute er sich noch einmal die Einladung an und mußte zu seinem Schrecken feststellen, daß das Evénement im Bayerischen Hof zu München stattfand.
Aus der gemeinsamen Fontane-Arbeit rührte auch meine flüchtige Bekanntschaft mit dem französischen Germanisten und Fontane-Forscher Pierre-Paul Sagave, dem ich eines Tages zufällig in der Münchner Schellingstraße begegnete. Ich unterhielt mich einen Augenblick mit ihm, und er trug mir Grüße an Müller-Seidel auf, die ich umgehend bestellte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich von ihm, daß Sagave eine Freundin in München hatte. Auf mein Eingeständnis, von dieser Affäre nichts gewußt zu haben, replizierte Müller-Seidel mit leicht angerauhtem Charme: „Herr Hettche, Sie wissen aber auch vieles nicht!“ Scio nescio, aber einen Bereich gab es dann doch, bei dem Müller-Seidel freimütig zugab, weniger zu wissen als ich. Am 3. August 2005 schrieb er mir: „Wieder einmal wende ich mich an Sie als den findigsten unter denen, die Glück im Suchen antiquarischer Bücher haben.“ Unser Briefverkehr beschränkte sich in den letzten Jahren weitgehend auf solche Bitten um Beschaffung dringend benötigter Bücher über Psychoanalyse, den Fall Schneider/Schwerte, Schiller, Medizin-, Justiz- und Wissenschaftsgeschichte – alles Gebiete, mit denen sich Müller-Seidel zwar seit Jahrzehnten beschäftigte, auf denen er aber doch immer wieder Literatur fand, die er noch nicht kannte, ein Mangel, den er schwer ertragen konnte: „Zu meiner Überraschung stelle ich fest, daß es eine Schrift von Wolfgang Kayser gibt, von der ich nie gehört habe“ (30. Mai 2007; gemeint war Schiller als Dichter und Denker der Größe, Göttingen 1960). In einem etwas kryptisch auf den „2. 28. 2006“ datierten Brief erbittet er die Besorgung von Karl S. Guthkes Buch Wege zur Literatur aus dem Jahr 1967: „Ein so weit zurückliegendes Buch dürfte nicht ganz leicht zu beschaffen sein. Aber vielleicht haben wir Glück.“ ,Wir‘ hatten Glück (obwohl es meines ja eigentlich gar nicht war), für 12 Euro 10 war das Buch zu haben. Überhaupt konnte ich ihm in den allermeisten Fällen mühelos helfen, und daß er hie und da vergaß, die Rechnungen zu bezahlen, war nicht mein Problem, sondern das der Antiquare.
Nur selten nutzte Müller-Seidel solche schriftlich übermittelten Suchaufträge auch zu persönlichen Mitteilungen (umgekehrt fügte er viel häufiger einem Weihnachtsgruß oder dem Dank für eine Urlaubskarte einen Buchwunsch an). Als Günter Grass seine SS-Mitgliedschaft gestanden hatte, fragte Müller-Seidel in einem Brief vom 22. August 2006: „Und was sagt man in Ihren Kreisen [bis dahin wußte ich überhaupt nicht, daß ich irgendwelchen „Kreisen“ angehörte] über Günter Grass, den praeceptor Germaniae, als der er sich zeitweilig gab?“, und einen Tag nach der Bundestagswahl vom 27. September 2009 schrieb er: „Nach dem gestrigen Desaster will ich alles tun, um die nächste Wahl noch zu erleben in der Hoffnung, daß es bessere Ergebnisse gibt.“ Das war ihm leider nicht vergönnt, obwohl er doch nach eigener Aussage über nachgerade kosmische Kräfte verfügte. Rotwein trinke er grundsätzlich nur nach Sonnenuntergang, hat er mir einmal erzählt, und als er eines Tages nach dem Mittagessen einen Roten bestellte, antwortete er auf meinen Einwurf, es sei doch noch heller Tag, mit dem majestätischen Satz: „Manchmal bestimme ich, wann die Sonne untergeht.“