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Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945). Hg. von Thomas Anz. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2022. 684 Seiten, 32,50 EUR

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Anna Axtner-Borsutzky: Walter Müller-Seidels fragmentarischer Erinnerungsbericht. Autobiographik und Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Peter Lang Verlag, Berlin 2022. 374 Seiten, 69,95 EUR.

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Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik. Hg. von Gunter Reiss. De Gruyter, Berlin 2017. 224 Seiten, 99,95 Euro

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"Müller-Seidels Studie ist das unbestrittene Ereignis des Schiller-Jahres 2009." (Die Zeit)
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Manfred Beetz: Zum Vermächtnis: Schiller. Zu Walter Müller-Seidels Schillerbuch von 2009

Wenn ein exzellenter Schiller-Kenner und langjähriger Mitherausgeber des Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft wie Walter Müller-Seidel mit 92 Jahren in seinem vorletzten Lebensjahr ein 400 Seiten umfassendes Schiller-Buch vorlegt, dürfen wir es als sein wissenschaftliches Vermächtnis betrachten.

Der Münchner Beckverlag hat das Friedrich Schiller und die Politik (München 2009) betitelte Werk mit einem vielsagenden Umschlag ausgestattet. Vor einem dunkelroten Hintergrund hebt sich die helle Lichtgestalt Schillers im Profil nach dem Porträt von Gerhard von Kügelgen ab. Überlebensgroß und aus frontaler Perspektive füllt das Napoleon-Gemälde von Francois Gérard den in Blut getauchten Bildhintergrund aus. Dabei zeigt das Bild vom erhabenen Kopf des französischen Kaisers nur die Mundpartie, Augen und Stirn liegen außerhalb des Bildausschnitts. Napoleon trägt eine militärische Uniform, Schiller ist zivil gekleidet.

Die Umschlagsgestaltung verrät einiges vom Inhalt des Buches. Der Bildhintergrund bleibt bewusst unscharf, denn Napoleon kommt in Schillers Werken explizit nicht vor. Er muss nach Art eines Indizienbeweises als Bezugsgröße erschlossen werden. Er gehört zum verschwommenen und zu verdeutlichendem „Hintergrundwissen“ (213). Der Verfasser spricht von einer verschwiegenen Gegnerschaft Schillers und resümiert, dass Napoleons  Siege nicht zuletzt eine überraschende Kultur der Niederlage in Preußen und den Rheinbundstaaten heraufführten.

Wer dieses letzte Schillerbuch von Müller-Seidel in die Hand nimmt, findet hohe Erwartungen bestätigt. Eine souveräne Stoffbeherrschung verdankt sich einer fast lebenslangen Vertrautheit nicht nur mit Schillers Gedankenwelt und biographischen Erfahrungen einschließlich seiner reichen Korrespondenz, sondern auch der Schillerschen  Werke im Kontext der Zeitgeschichte, als Wortmeldungen zu kontemporären Problemen der Politik-, Sozial- und Rechtsgeschichte. Bei einem so erfahrenen Kenner der deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert darf der Leser mit Ausblicken auf die Schiller-Rezeption und Wirkungsgeschichte in der Moderne rechnen. Der Leser sieht haltbaren Resümees von Erträgen der älteren und jüngeren Forschung im Rahmen einer wohlwollenden Sichtung der Sekundärliteratur entgegen und stellt sich im besonderen Fall entsprechend auf weise, altersmilde Betrachtungen ein.

Von Weisheit kann hier sehr wohl die Rede sein, nicht aber von altersmilden Urteilen! Dafür präsentiert sich die Monographie zu engagiert und  temperamentvoll.

Welche Akzente setzt Müller-Seidel in der umfangreichen Schiller-Forschung und möglicher Weise in aktuellen literaturtheoretischen Debatten? Er stellt nachdrücklich den an Politik interessierten Dichter heraus, untersucht am literarischen Werk seine Einstellung zu verschiedenen Herrschaftsformen, zu Verschwörungen, zum Widerstandsrecht und Tyrannenmord. Das Mitspracherecht der Literatur und ihrer Wissenschaft an öffentlichen Debatten wird entschieden eingefordert. Die Beschäftigung mit Literatur kann nach Müller-Seidel uns kompetent und empfänglich für die adäquate Behandlung moralischer Phänomene und ihre sprachliche Kategorisierung in der Moderne machen. Wie umsichtig und abwägend der Dramatiker Schiller etwa die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung menschlicher Verhältnisse reflektiert, könne auch späteren Generationen noch bei Revolten und Demonstrationen zu denken geben.

Der Verfasser fordert auf, die Dramen als zeitgeschichtliche Stücke vor der präsenten, die Jahrhundertwende überragenden Gestalt Napoleons zu lesen. Dieser verkörperte für Schiller jedoch keine Kultfigur. In ihm bewunderte er im Gegensatz zu Goethe oder Hegel nicht den großen historischen Ausnahmemenschen. Mit dem als Untertitel der Studie übernommenen Zitat von Max Piccolomini „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“ ist der Eroberungspolitik und der Gier des Korsen nach Alleinherrschaft eine Absage erteilt. In einem riskanten Vergleich von Schillers verschwiegener Gegnerschaft mit dem expliziten Napoleonhass von Kleist werden die Vorbehalte beider enggeführt, gelten sie doch in beiden Fällen dem Despoten, nicht der französischen Nation (275).

Eine hermeneutische Lektüre habe in den klassischen Dramen von einer doppelten Optik der temporalen Bezüge auszugehen: zum einen der Epoche, in der die Handlung spiele, und zum andern der Zeit, in der sie geschrieben wurde.

Eine genauere Kenntnis der welthistorischen Vorgänge in Frankreich verdankte Schiller – erfahren wir – dem von der Forschung vernachlässigten Historiker Ernst Ludwig Posselt. Ihm, der wie Archenholz sich der Zeitgeschichte zuwandte und mit den Ideen der Französischen Revolution sympathisierte, wird eine gerechte Würdigung zuteil. Keinem anderen als Posselt ist Schillers detaillierte Kenntnis der Dokumente des Nationalkonvents im Hochverratsprozess gegen Ludwig XVI. von 1792/93 geschuldet. Der Prozess gegen den französischen König und seine Hinrichtung wird in Maria Stuart mitverhandelt. Die historisch älteren Quellen werden - hier durchaus im Einklang mit der Forschung - zum Palimpsest für die politisch aktuellen Bezüge zum revolutionären Frankreich. Bezeichnend für den Horizont des Buches und seines Verfassers ist das Überschreiten fachdisziplinärer Grenzen: Er zieht das 2005 erschienene Werk des Strafrechtslehrers Klaus Lüderssen über „Schiller und das Recht“ heran, das im Titelzitat Staatsräson und Völkerrecht einander konfrontiert, um den springenden Punkt der Verteidigungsstrategie der schottischen Königin zu finden: Sie bestreitet die Prinzipien des gegen sie eingeleiteten Verfahrens und seine Rechtmäßigkeit. Von einem anderen Juristen – gemeint ist Udo Ebert – wird Schillers Plädoyer gegen die Todesstrafe in den Kontext aufklärerischer Strafrechtsreformen gestellt. Müller-Seidel gelingt anhand von zeitgenössischen Vermittlern wie Johann Adam Bergk und Johann Benjamin Erhard der Nachweis, dass sich Schiller mit Beccarias Ablehnung der Todesstrafe anfreundete.

Schiller machte es sich nicht leicht mit den mehrfach aufgenommenen Themen des Tyrannenmords und der Auflehnung gegen Fremdherrschaft. Im Fiesko schreckt Verrina als Jakobiner-Ideologe nicht vor schäbigem, politischem Mord zurück, während Fiesko sich in Monologen selbstkritisch nach möglichen Motiven der Herrschsucht als eigentlichem Handlungsmotor befragt.

Für die Wallenstein-Trilogie geht Müller-Seidel von der partiellen Rehabilitierung des Feldherrn in der Historiographie und bei Schiller aus. Dem Ehrgeiz des Generalissimus lagen Tötungsabsichten gegenüber dem Wiener Hof fern. Politik und Menschlichkeit begegnen sich in Schillers Tragödie allerdings erst gegen Ende, Wallensteins Totenklage über Max wird als ein Ausdruck der Menschlichkeit gewürdigt. Damit verliert Hegels Bedauern über den nihilistischen Schluss der Trilogie an Plausibilität. Müller-Seidel macht sich Goethes Interpretation des Tragödienschlusses und Max Piccolominis Wendung von der „Heimkehr in die Menschlichkeit“ (aus der Unmenschlichkeit des Krieges) zu eigen. Goethe hatte 1799 in einem Brief an Schiller an den letzten Akten von Wallensteins Tod gerühmt, „daß alles aufhört politisch zu seyn und bloß menschlich wird ja das historische selbst ist nur ein leichter Schleyer wodurch das reinmenschliche durchblickt“. Ob allerdings Goethe Schillers Intention richtig erfasst hat, dem es bei diesem Drama nachweislich auf historische Treue ankam, steht auf einem anderen Blatt. Außerdem nähert sich Müller-Seidel an anderer Stelle Hegels Nihilismus-These, wenn er an den klassischen Dramen seit Wallenstein einen durchgängigen Geschichtspessimismus festhält, der als geschichtsphilosophische Ernüchterung allerdings vom Nihilismus unterschieden wird (267).

Die Hinrichtung Maria Stuarts wirft viele juristische, insbesondere völkerrechtliche Fragen auf. Der Verfasser verdeutlicht die Manipulierbarkeit des Rechts und die Relevanz der Sprachregelungen für das zu fällende Urteil. Zur Aktualisierung des historischen Stoffs tragen Parallelen in der Argumentation des Präsidenten der Nationalversammlung Condorcet und im Drama von Leicester für eine Aufschiebung der königlichen Hinrichtung bei.

Die Jungfrau von Orleans wird nicht als ein Drama der Romantik, sondern als eines der Aufklärung über die Themen der Selbstbestimmung eines ganzen Volkes und des Widerstandsrechts charakterisiert. Der später missbrauchte Patriotismus Johannas wird in Schillers „romantischer Tragödie“ mit Ideen sozialer Verbesserungen für Bürger und Bauern verknüpft. Benno von Wieses religiöse Deutung des Tötungsgebotes, das Johanna selbst aus ihrer Berufung herleitet, sieht Müller-Seidel zurecht im Drama diskreditiert. Im Sinne aufklärerischer Religionskritik werde religiöses Leben keineswegs nur als etwas Positives gewürdigt (162). Nicht anders als Kleist oder E.T.A. Hoffmann zeige sich Schiller offen für Wahrnehmungen des Unbewussten (169).

In der Braut von Messina wird Sizilien anschaulich als klassische Kulturlandschaft gezeichnet, deren Schicksal es war, regelmäßig fremden Invasoren als Herren unterworfen zu werden. Bauformen der antiken Tragödie sind in moderne Bewusstseinsformen transformiert. Dabei sei die Divergenz zwischen der Schicksalsgläubigkeit der Figuren und dem Schicksalsverständnis des Dramas zu beachten. Das unerbittliche Schicksal werde den Betroffenen nicht von Göttern, sondern von Menschen bereitet (177). Politisch bezeuge das symbolische Geschichtsdrama die Wiederholung der über Italien augenscheinlich verhängten Invasionen, die von den jüngsten Eroberungszügen der Franzosen in der Gegenwart nur einmal mehr bestätigt würde.

Ähnlich geht es in Tell um die Selbstbestimmung der Schweiz. Von einer fremden Besatzungsmacht wird das Naturrecht mit Füßen getreten. Eine Neuerrungenschaft Schillers liege darin, dass er tyrannische Herrschaft in ihrem konkreten Gebaren und ihren verheerenden Wirkungen vor Augen führt. Obwohl Tells Tat bejaht werde, bleibe das „Schauspiel“ in seiner Tendenz eher antijakobinisch. Tyrannenmord und Verschwörung würden bewusst getrennt. Der Volksheld triumphiert nicht nach seinem Mord, sondern gewinnt tragische Züge. So können uns die Zeitverhältnisse zwingen, um der Humanität willen auf sie temporär zu verzichten (205). Müller-Seidel warnt vor Versuchen, den Schluss des Tell als Erfüllung der Utopie des ästhetischen Staats zu betrachten. Das schmerzhafte Bewusstsein, dass die Idylle durch einen Mord erst ermöglicht wurde, lasse sich nicht verdrängen. Mit der These vom bohrenden Schuldbewusstsein eines Mörders übergeht der Interpret freilich die Begriffsklärung der Parricida-Szene. Ihre Funktion ist es gerade, ein politisches Attentat gegen eine despotische Obrigkeit aus „Notwehr“ nachdrücklich von einem Vatermord aus niederen privaten Motiven zu unterscheiden. Benno von Wiese hat dies im übrigen gesehen! Die DDR-Germanistik schneidet in ihren hellsichtigen, politischen Interpretationen vielfach besser als die westdeutsche Germanistik ab (224). Edith Braemer, Ursula Wertheim, Hans-Günther Thalheim können gewissermaßen als „Pioniere“ einer Schillerforschung im Zeichen Napoleons namhaft gemacht werden. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verkörperte die Schweiz deutschen Aufklärern das Ideal eines demokratisch-republikanischen Staatswesens. Schiller kannte das Werk von Johann Gottfried Ebel, eines Schlesiers, der später in die Schweiz übersiedelte, Schilderungen der Gebirgsvölker der Schweiz von 1798, das den Republikanismus der Eidgenossen hervorhebt (209). Welche Bedeutung die „Helvetische Republik“ von 1798 bis 1803 für die Entstehung des Wilhelm Tell gewann, hat der Hallenser Literarhistoriker Thomas Höhle 1987 herausgestellt (210). Trotzdem verbiete es sich, argumentiert Müller-Seidel, Tell als Helden der Französischen Revolution zu reklamieren, wie es im (französischen) Schauspiel Lemierres geschehe (207). Schiller gewann der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und dem sich anschließenden Krieg größere Sympathien ab als der Französischen Revolution, weil die Amerikaner trotz blutiger Auseinandersetzungen schon im Vorfeld ohne deren Gewaltexzesse auskamen.

Mit der steigenden Bedeutung des großen Individuums im 19. Jahrhundert schwand das literarische Interesse am Thema des Widerstandsrechts gegen Tyrannen. Müller-Seidel schließt sich der politikwissenschaftlichen Analyse der Historikerin Hella Mandt an, die an Hegels Rechtslehre, Treitschkes Geschichtsschreibung und Max Webers Herrschaftstypologie Tendenzen ausmacht, die im 19. Jahrhundert als Synergie-Effekte die Staatsfrömmigkeit und die Bewunderung des großen Ausnahmemenschen verstärkten, dem man einen Machtmissbrauch nur zu gerne verzieh. Erst die Erfahrungen mit Despoten totalitärer Staaten im 20. Jahrhundert brachten eine Wende und aktualisierten das Widerstandsmotiv. Das von Hitler verfügte Aufführungsverbot des Wilhelm Tell und dessen Eliminierung aus dem Kanon der Schullektüre geht Müller-Seidel zufolge wesentlich auf den Attentatsversuch des Schweizer Studenten Maurice Bavaud zurück (288). Auch für die Attentäter des 20. Juli 1944 habe Schiller eine Rolle gespielt: Graf v. Stauffenberg gehörte wie sein älterer Freund Max Kommerell zum George-Kreis. Der Literarhistoriker Kommerell wiederum entwarf ein Täterporträt Schillers: Der Dichter wird als Gestalter gerade des handelnden Menschen, auch als Verschwörer zum Vorbild (288 f.)

Angesichts des ausgebreiteten historischen Datenmaterials stören einige Wiederholungen nicht gravierend. Bemerkenswerter sind die demonstrierte Diskussionsfreude und das Vertrautsein mit aktuelleren literaturwissenschaftlichen Lektüren. In Debatten um Interpretationen und ihre Methodik schaltete sich Müller-Seidel früher als die meisten Literaturwissenschaftler seiner Generation und bis zuletzt bereitwillig ein. Am leidenschaftlichsten in die literaturtheoretische Diskussion zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Seit seinem Buch über Probleme der literarischen Wertung (1965) beschäftigte ihn die Frage, inwieweit literarische Werte von ethischen abhängig sind. Dort – im Wertungsbuch - wird im 5. Kapitel über „Probleme des Menschlichen“ eine historisch jeweils neu zu tarierende Balance zwischen den Spannungspolen des Eigenrechtes der Kunst auf der einen Seite und ihrer Abhängigkeit von einem veränderlichen Humanitätsideal auf der anderen zur Aufgabe gemacht. Über den historischen Wandel von Leitvorstellungen wie ‚Menschlichkeit’, Humanität’ enthält das Schillerbuch höchst Lesenswertes. Im klaren Bewusstsein von Schillers ästhetischem Erziehungsprogramm, das als politisches gedeutet wird, setzt sich Müller-Seidel dafür ein, die Freiräume, die das Autonomiekonzept der Kunst einräumt, zu respektieren. Andererseits ergreift er bei der Bestimmung des Kräfteverhältnisses von Ethik und Ästhetik energisch für die Belange der Moral Partei. Er unterstreicht mit allem Nachdruck die ethische Leistung und Verpflichtung von Schillers literarischem Werk, ohne Nietzsches böses Wort aus der Götzen-Dämmerung über den „Moral-Trompeter von Säckingen“ zu scheuen. Der ästhetischen Qualität wiederum der Schillerschen Dialogkunst, seinen Regieanweisungen zur Körpersprache, der Handlungsführung, Leitmotivik, Publikumsdramaturgie hatte Müller-Seidel sich in früheren Forschungsbeiträgen gelegentlich zugewandt. In seinem ‚Vermächtnis’ spielen sie keine Rolle mehr, treten hinter sittlichen und politischen Fragen zurück. Auch feministische Anliegen hatte sich der Verfasser schon in früheren Beiträgen – etwa zum „Stummen Drama der Luise Millerin“ (1955) oder im großen Fontanebuch (1976) – zu eigen gemacht, als von einer Genderforschung noch kaum in Deutschland gesprochen wurde. So wird schon bei der Lektüre der Räuber festgehalten, dass hier Menschlichkeit Sache der Frauen bleibt und in einer von Männern gemachten Welt nur ein Schattendasein führen darf. Am Klagelied der Thekla in Wallenstein wird das Mündigwerden einer jungen Frau beobachtet. Aus Müller-Seidels Sicht verraten Frauenfiguren in den Räubern, in Fiesko, Don Karlos, Wallenstein oder Maria Stuart den psychologischen Blick des Arztes Friedrich Schiller.

Für den Münchner Literarhistoriker kann die Schiller-Lektüre zum Anstoß für Fragen werden wie ‚Darf der Einsatz von Giftgas im 1. Weltkrieg „human“ genannt werden?’ ( 329)‚ ‚Wie verhält sich Sterbebegleitung gegenüber der Euthanasie?’ (332 f.) Solche applikativen Konsequenzen der Hermeneutik würden nur wenige Philologen heute ziehen und sie vom eigentlichen Interpretationsgeschäft des Philologen trennen. Vom Literarhistoriker erwartet man nicht unbedingt moralische Stellungnahmen  und Wertungen, um die Politiker, Journalisten und Pfarrer bekanntlich nie verlegen sind.

Das dem Schillerbuch als Untertitel und Motto vorangestellte Max-Piccolomini-Zitat problematisiert die Voraussetzungen und Bedingungen für die Zuordnung historischer Größe. Bei deren fragwürdigen Legitimierungsversuchen aus Tötungsgeschichten kommt der Verfasser auf die Unterschiede von künstlerischer bzw. wissenschaftlicher Größe einerseits und der Verleihung historisch-politischer Größe andererseits zu sprechen. Ob sich Schiller mit deren Ablehnung auch von der ästhetischen Idee des Erhabenen distanziert, blieb allerdings unerörtert. Künstlerische und wissenschaftliche Größe seien im allgemeinen nicht mit Herrschaftsansprüchen verbunden, heißt es (291). Nietzsche hätte das sicher anders gesehen und den Willen zur Macht auch hinter der wissenschaftlichen Wahrheitssuche vermutet.

Dass vom wissenschaftlichen Diskurs der Machtaspekt nicht ablösbar ist, demonstrieren – abgesehen von Foucault – sehr handgreiflich die zahlreichen renommierten Kollegen, die der Kritik ausgesetzt werden, – in alphabetischer Folge: Pierre Bertaux, Paul Böckmann, Dieter Borchmeyer, Helmut Koopmann, Hermann August Korff, Matthias Luserke-Jaqui, Fritz Martini, Kurt May, Hans Mayer, Peter Michelsen, Horst Rüdiger, Rüdiger Safranski, Gerhard Storz, Gert Ueding, Benno v. Wiese, Kurt Wölfel.

Von Kritik verschont bleiben demnach weder Kollegen oder akademische Lehrer Müller-Seidels noch seine zahlreichen Schüler und Freunde. Ob Benno v. Wiese nach nunmehr einem halben Jahrhundert seit Erscheinen seines Schiller-Buches immer noch so viel Seitenhiebe verdient, wie er noch 2009 einstecken muss, kann man sich bedauernd fragen. Als Prügelknabe scheint der Großordinarius vom Rhein dem Kollegen an der Isar ans Herz gewachsen zu sein. Auch hochgeschätzte Kollegen wie Fritz Martini, Mitherausgeber des Schiller-Jahrbuchs, sind nicht sicher vor Beanstandung. Dass z.B. Schiller Napoleon nicht nur bekämpfte, sondern auch – wie Martini vermutet – fasziniert von seinen Siegen war, gilt als „völlig unwahrscheinlich“ (226). Späte Kritik trifft auch den ansonsten verehrten Lehrer Paul Böckmann wegen seiner apolitischen Hölderlin-Interpretation. Die Lust an einer sachdienlichen Streitkultur hat Müller-Seidel nie verlassen.

Aufschlussreich erscheint das reiche Instrumentarium an Ausdrucksformen der Kritik sein, die er virtuos handhabt: Es reicht vom maliziösem Lob über vorsichtige Differenzierung zu dezidierter Ablehnung. Bei der Wiederaufnahme einer These aus seinem früheren und grundlegenden Wallenstein-Beitrag „Episches im Theater der deutschen Klassik“ durch einen Schüler heißt es (S. 367, Anm. 11): „Die Auffassung, dass es sich hinsichtlich des ‚Reiterliedes’ um Rollenlyrik handelt, habe ich 1976 in dem Aufsatz ‚Episches im Theater der deutschen Klassik’ zu begründen versucht … Zu meiner Freude hat dies neuerdings auch Wulf Segebrecht getan: Über die unpopuläre Popularität“ (2006).

Das zentrale Menschlichkeits-Motto leitet zu einem Disput mit D. Borchmeyer über. Dessen bedeutende Wallenstein-Studie Macht und Melancholie (1988) wird bei der Behandlung der charismatischen Herrschaft kaum gewürdigt und statt dessen mit einer milden Warnung versehen: Die Melancholiestudie trage zwar viel zum Verständnis der individuellen (!) Figur des Heerführers bei, nähere sich aber bedenklich einer eindimensionalen Lesart. Indem sie Wallensteins Schicksal auf ein endogenes Geschehen reduziere, laufe man Gefahr, neben der Astrologie die gesellschaftlich politischen Anstöße zu psychischen Veränderungen zu übersehen (132).

Auch ein Lob, das allgemeinen Erkenntnissen gilt und die eigentlichen Errungenschaften einer Interpretation übergeht, kann im Einzelfall halbherzig wirken. Sautermeisters hervorragende genderspezifische Deutung der Maria Stuart wird nicht als Tragödie des Patriarchalismus und widersprüchlicher Geschlechterbilder gelobt, sondern für seine blasse  Kritik daran, dass Politisches oft gegenüber Seelischem zu kurz komme.

Zurück zum Wallenstein-Zitat: Größe ist für Müller-Seidel kein selbstverständlicher Wert (58). Er selbst zeigte sie neben der wissenschaftlichen Arbeit auch im alltäglichen Umgang. Dieses „Menschliche“ im Fluss der Zeiten und in stets neuen Konstellationen aufzuspüren, ist nach Müller-Seidel nicht nur das ernste Geschäft von Ethik-Kommissionen, sondern auch der Literatur und ihrer Wissenschaft. Darüber hinaus war es für ihn eine Handlungsmaxime.

Das Menschliche, das Walter Müller-Seidel in den letzten Jahren seines Lebens in der Pflege seiner schwer erkrankten Frau täglich praktizierte, war ebenso überzeugend wie seine lebendig gebliebene Faszination von Literatur.

Gewidmet ist das Schiller-Buch Müller-Seidels seinen verstorbenen Kindern Wolfhardt und Almuth.