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Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945). Hg. von Thomas Anz. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2022. 684 Seiten, 32,50 EUR

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Anna Axtner-Borsutzky: Walter Müller-Seidels fragmentarischer Erinnerungsbericht. Autobiographik und Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Peter Lang Verlag, Berlin 2022. 374 Seiten, 69,95 EUR.

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Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik. Hg. von Gunter Reiss. De Gruyter, Berlin 2017. 224 Seiten, 99,95 Euro

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"Müller-Seidels Studie ist das unbestrittene Ereignis des Schiller-Jahres 2009." (Die Zeit)
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Wulf Segebrecht: Walter Müller-Seidel an den Universitäten Köln und Bonn; das Projekt der Hist.-krit. Schiller-Ausgabe, Antrittsvorlesung zu Gottfried Benn an der Universität München (Juni 1961)

Herrn Müller-Seidel lernte ich im November 1958 in Bonn kennen. Zuvor hatte ich in Göttingen studiert, u.a. bei Wolfgang Kayser und Albrecht Schöne. Wolfgang Kayser, bei dem ich eine Prüfung zum Erlaß der Studiengebühren abzulegen hatte, riet mir: „Zuerst gehen Sie nach Bonn zu Benno von Wiese, dann nach Zürich zu Emil Staiger, und wenn Sie dann immer noch Lust haben, kommen Sie zu mir zurück nach Göttingen“. Also wechselte ich erst mal nach Bonn, aber Benno von Wiese gefiel mir gar nicht. Zu viele vollmundige Gewißheiten und großprofessorales Auftreten! Ich war gespannt auf Richard Alewyn aus Berlin, der einen Ruf nach Bonn erhalten hatte. Aber der ließ auf sich warten und wurde für die Zwischenzeit vertreten von Walter Müller-Seidel, einem Privatdozenten aus dem benachbarten Köln. Er bot ein Proseminar über Goethes Lyrik an, das ich besuchte. Ich schrieb eine Seminararbeit über „Natur und Kunst in Goethes Gedicht Euphrosyne“, in der ich haarscharf nachweisen zu können glaubte, daß Terminologie und Methode der „morphologischen Literaturwissenschaft“ Günther Müllers geeignet seien, Goethes Elegie angemessen zu erschließen. Müller-Seidel reagierte in seiner langen handschriftlichen Beurteilung dieser Arbeit mit Lob – und mit heftigstem Widerspruch. Das Lob war schön, aber der Widerspruch war wichtiger: Man müsse sich vor einer unkritischen Inanspruchnahme Günther Müllers hüten, schrieb er, um nicht in die Gefahr zu geraten, einer biologistischen Denkweise unseligen Angedenkens unfreiwillig Tribut zu zahlen. Dieser produktive Geist des Widerspruchs zog mich unwiderstehlich zu diesem Lehrer hin. Ich hatte dessen Widerspruchsgeist schon in diesem Proseminar genossen, und ich begegnete ihm dann später in Müller-Seidels Vorlesungen immer wieder: Der forschungskritische Zugang zu den Gegenständen unseres Faches schulte nicht nur das vielzitierte Methodenbewußtsein, sondern gab den poetischen Texten ihre Historizität und ihre Aktualität zugleich zurück, die sie in der Phase der „immanenten Interpretation“ zu verlieren drohten. Er polemisierte ebenso gegen die „Einfühlung“ Emil Staigers („zu begreifen, was uns ergreift“) wie gegen Käte Hamburgers „Logik der Dichtung“, gegen die  ideologischen Vereinnahmungen poetischer Texte, aber auch gegen jeden interesselosen Umgang mit ihnen. – Er lud mich dann ein, sein letztes Kölner Hauptseminar zu besuchen, aus dessen Thema „Autobiographie und Dichtung“ sich die Verabredung zu einer Dissertation über E.T.A. Hoffmann ergab, nachdem ich ein Referat über Fontanes „Meine Kinderjahre“ gehalten hatte. Allerdings wäre es im Interesse einer engen Zusammenarbeit vorteilhaft, so meinte Herr Müller-Seidel, wenn ich nach München wechseln würde, wohin er gerade einen Ruf erhalten hatte. Ich schloß also meine Studien in Bonn eilig ab und folgte ihm zum Wintersemester 1960/61 nach München.

Mit Spannung und Stolz verfolgte ich dort seine Antrittsvorlesung. "Gottfried Benn und der Nationalsozialismus". Das war 1961 ein sehr ungewöhnliches Thema. Ich zitiere ein zeitgenössisches Dokument: Joachim Kaisers Bericht über diese Veranstaltung in der "Süddeutschen Zeitung": "Das riesige Auditorium maximum der Münchener Universität war überfüllt. Ein jun­ger Professor, der über Schiller promovierte und über Kleist sich habilitierte, nimmt sich dies heikle Thema vor und hält es sogar für antrittsvorlesungswürdig. Junge Studenten, 1933 noch gar nicht auf der Welt, 1945 Kinder, strömen hin und wollen wissen, wie der Professor sich schlagen wird, wie Benn sich geschlagen hat". Soweit Joachim Kaiser. Doch der Professor hatte kein Interesse daran, sich zu schlagen; er schlug vor, er machte Vorschläge, wie Texte, auch und gerade schwie­rige, problematische, ja bedenkliche Texte verstanden werden können.

Das Buch, das aus diesem Vortrag hervorgehen sollte, ist 1962 angekündigt worden, aber leider nie erschienen. Was kam dazwischen? Gewiß: Die "Forderungen des Tages", die Lehre, die For­schung, die Prüfungen, die Akademien und Verbände und die Gremien und die Fakultätentage und die Forschungsgemeinschaft und die Verwaltung all dieser Dinge. Herr Müller-Seidel hat davon nie viel Aufhebens gemacht. Er hat nur gezeigt, was sich an Arbeit und umfassendem Verantwortungsbewußtsein hinter der schlichten Formel verbirgt, wonach jemand sein Fach in Lehre und Forschung vertritt. Für Urlaub und Ferien blieb da kaum einmal Zeit. Als es doch einmal dazu kam, in der Münchener Anfangszeit, durfte ich Haus und Hund des Professorendomizils in der Eisensteinstraße 6 bewachen – ein Zeichen engen Vertrauens.

Natürlich wurde ich zum Oberseminar eingeladen. Eigentlich hatte ich in München nichts anderes zu tun, als meine Dissertation fertigzustellen, aber zunehmend interessierten mich die Literaturkritik, das literarische Leben und die literarischen Institutionen, was Herr Müller-Seidel wohlgefällig zur Kenntnis nahm und entschieden förderte. Er schickte mich für einige Zeit nach Marbach ans Schiller-Nationalmuseum, wo ich bei der Mithilfe am Gerhart Hauptmann-Katalog von 1962 die gute philologische Schule Bernhard Zellers und Paul Raabes durchlief, Nachlässe vorsortierte und mich mit den editorischen Aufgaben unseres Faches vertraut machte.

Herrn Müller-Seidel war bereits während seiner Assistentenzeit in Heidelberg von Reinhard Buchwald, Hermann Schneider und von seinem „verehrten Lehrer“ (so seine Formel im Nachwort von SNA XXIII) Paul Böckmann die Arbeit an den Briefbänden der Schiller-Nationalausgabe übertragen worden, deren ersten Band (Briefe von 1772 bis 1785) er schon 1956 vorlegen konnte. Die Fortsetzung dieser editorischen Arbeit an den Briefen der Jahre 1785 bis 1787 sowie der Briefe an Schiller des Zeitraums 1781 bis 28.2.1790 war möglich und erforderlich geworden, als die Schiller-Nationalausgabe durch die gemeinsame Gesamt-Herausgeberschaft von Lieselotte Blumenthal (DDR) und Benno von Wiese (BRD) in ein etwas ruhigeres Fahrwasser gekommen war. [1] Die DFG gewährte Herrn Müller-Seidel eine Mitarbeiterstelle, die er mir nach der Promotion übertrug. Es wurde eine regelmäßige, sehr intensive Zusammenarbeit in den Jahren 1964 bis 1966. Wir trafen uns jeden Samstag im Hause Müller-Seidel zur Besprechung der im Laufe der Woche erledigten Recherchen und Niederschriften. Die Ergebnisse dieser Arbeit liegen in den Bänden XXIV und XXXIII (1 und 2) der National-Ausgabe vor, wobei nach meinem Geschmack der Hinweis auf Müller-Seidels (und meine) Anteile an diesen Bänden etwas dürftig ausgefallen ist: „Der vorliegende Band“, heißt es im Band XXIV (S. 193), „entstand auf der Grundlage eines von Walter Müller-Seidel besorgten Manuskriptes. Karl Jürgen Skrodzki schloß die Edition des Textes ab; von ihm stammt auch der größere Teil der Anmerkungen“.

Über Schiller blieben wir auch weiterhin im Gespräch. Er ließ mich Anteil nehmen an der Entstehung seiner letzten großen Schillermonographie („Friedrich Schiller und die Politik“, 2009). Er wußte, daß ich eine umfangreiche Rezension dieses Buches für die Zeitschrift „Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur“ (IASLonline [26.01.2011] URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3116 ) geschrieben hatte, und erwartete die Publikation dieser Rezension mit Ungeduld. „Die Zeitschriften mahlen wie Gottes Mühlen“, schrieb er mir drei Wochen vor seinem Tod, „nämlich langsam. Wollen Sie mir bei Gelegenheit nicht einfach Ihr maschinenschriftliches Manuskript schicken? Sonst kann es womöglich geschehen, daß ich Ihre Rezension gar nicht mehr erlebe; und das täte mir leid“. Umgehend schickte ich ihm natürlich das Erbetene, und ich bin ganz sicher: Er hat es noch gelesen.

[1] Einzelheiten bei Norbert Oellers: Fünfzig Jahre Schiller-Nationalausgabe – und kein Ende? Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1991.